4. Januar 2024

Wohin verschlieft sich unsere Intelligenz?

Aus seiner Sicht sollten wir uns Gedanken machen. Über die Umkehr des «Flynn-Effekts». Über den grössten Abfall der Intelligenz, den Estland als das digitalisierteste Land der Welt zu verzeichnen hat.

Das meint Manfred Spitzer, Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie, der für seine pointierten Aussagen zum Zusammenhang von Medienkonsum und schulischen Leistungen bekannt ist. Er bezieht sich dabei auf den sich akzentuierenden «Flynn-Effekt im Rückwärtsgang» seit Beginn der Jahrtausendwende. Seit diesem Zeitpunkt kann ein Rückgang der durchschnittlichen Rohwertleistungen in IQ-Testaufgaben in zahlreichen Ländern beobachtet werden. Damit wurde eine über Jahrzehnte andauernde Leistungszunahme in Intelligenztests beendet und ins Gegenteil verkehrt.

Bei dem vorangehenden Zuwachs bis zur Jahrtausendwende handelt es sich um eine weltweit zu beobachtende Entwicklung, die nach dem neuseeländischen Politologen James Flynn benannt wurde, der das Phänomen als erster ausführlich beschrieben hatte. Das Wachstum erfolgte dabei in den meisten Ländern durchschnittlich zwischen knapp einem und zwei bis drei Prozentpunkten pro Jahrzehnt, was in der Summe über ein Jahrhundert ein immenser Anstieg an nicht normierten Leistungswerten in klassischen Intelligenztests darstellt. Wobei sich die Zugewinne in verschiedenen Bereichen der Intelligenz zeigten: So deckt die formale Metastudie von Pietschnik & Voracek (2015) eine erhebliche Zunahme an fluiden, kristallinen und räumlichen Intelligenzleistungen weltweit auf.

Wären die Intelligenztests nicht kontinuierlich mit neuen Normen hinterlegt worden, so würde daraus innerhalb eines Jahrhunderts ein durchschnittlicher Anstieg um bis zu 30 IQ-Punkten resultieren. Eine solche Entwicklung wäre spektakulär und denkwürdig, könnte sie wirklich als Intelligenzzunahme gesehen werden. Beispielhaft liesse sich sagen, dass ein Mensch, der vor 100 Jahren einen IQ von 100 hatte, heute mit derselben Leistung nur noch auf einen IQ von 70 käme. Ein damals durchschnittlich intelligenter Mensch würde mit der damaligen Leistung im Intelligenztest im Vergleich zur heutigen Population im Extremfall noch nur ein Ergebnis erreichen, welches ihn an der Grenze einer geistigen Behinderung einstufen würde.

Nun glaubt freilich kaum jemand, dass wir tatsächlich einfach so viel «klüger» sind als vor 100 Jahren. Der enorme Anstieg wirft entsprechend Fragen zum Konstrukt der Intelligenz und ihrer Messung auf. Der «Flynn-Effekt» gilt als eines der auffälligsten Phänomene im Bereich der Intelligenzforschung und die Bedeutung sowie die Ursachen des «Flynn-Effekts» bleiben ein grosses Stück weit rätselhaft. Zu einem Teil ist es wohl einfach so, dass wir «gelernt» haben, mit der Art von Aufgaben in Leistungstests besser umzugehen und uns dabei auch optimalere Strategien zur Bewältigung von typischen Leistungstestaufgaben angeeignet haben (z.B. hinsichtlich Rate-Verhalten unter Unsicherheiten). Andere Erklärungen gehen von sich gegenseitig befördernden Faktoren wie besserer Bildung, sozioökonomischen Bedingungen, kleineren Familien, besserer Ernährung und geringerer Pathogenbelastung aus, die für die Leistungssteigerungen als Konglomerat verantwortlich sein sollen. Verschiedene Forscher und Fachleute – darunter auch der eingangs erwähnte Manfred Spitzer – vermuten vor allem die Bildung und kognitiv herausfordernde Arbeitsplätze als beständigste und stärkste Einflussfaktoren zur Leistungssteigerung – und damit zur Förderung der Intelligenz.

Doch wie gehen wir nun mit diesen Erklärungsmustern im Zusammenhang mit der Umkehr des «Flynn-Effekts» um? Seit etwa Mitte der 90er Jahre erweisen sich die Leistungstestwerte in Europa als rückläufig und der Trend hält an. Bereits zuvor zeigt sich eine Abflachung der Leistungszunahme. Eine Metastudie aus dem Jahr 2018 (Ritchie & Tucker) kommt entsprechend zum Schluss, den «Flynn-Effekt» massgeblich auf die (abnehmende) Qualität der Schulbildung angesichts gesellschaftlicher Veränderungen und den vermehrten Konsum digitaler Medien zurückzuführen: «Die Qualität der Schulen und der Medienkonsum sind die wahrscheinlichste Ursache der Abnahme des IQ». Manfred Spitzer nennt insbesondere Computerspiele – bzw. deren übermässige Exposition – als Hintergrund.

Jakob Pietschnig, Intelligenzforscher an der Universität Wien, nimmt hierzu in seinem Standardwerk «Intelligenz» eine Gegenposition ein. Er bezeichnet Schlüsse, wonach wir neuerdings «dümmer» werden, als unseriös. Die Umkehr des «Flynn-Effekts» führt er in erster Linie darauf zurück, dass unsere Fähigkeiten anders benötigt werden. So wie wir uns auch im beruflichen Kontext mehr und mehr spezialisieren, richten wir auch unser Leistungsvermögen darauf aus, wofür wir es am besten einsetzen. Wir fokussieren uns sozusagen auf unsere Paradedisziplin und vernachlässigen das Allgemeine. Demnach handle es sich mehr um einen Umbau unseres Intelligenzprofils als um einen allgemeinen Abbau. Unsere Intelligenz weitet sich in diesem Sinne auch in Bereiche aus, die mit klassischen Intelligenztests gar nicht gemessen werden.

Man kann gespannt sein, wie sich die Nutzung der jüngsten und künftigen Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz auf die menschlichen Leistungen in Intelligenztests auswirken.

Quellen:

Pietschnig, Jakob (2021). Intelligenz: Wie klug sind wir wirklich. Salzburg. EoWing.

Pietschnig, Jakob & Voracek, Martin (2015). One Century of Global IQ Gains: A formal Meta-Analysis of the Flynn Effect. Perspectives on Psychological Science, Vol. 10(3), p. 282-306.

Ritchie, Stuart J. & Tucker-Drob Elliot M. (2018). How Much Does Education Improve Intelligence? A Meta-Analysis. Psychochological Science, Vol. 29, Issue 8.

Spitzer, Manfred (2018). Werden wir dümmer? Der Flynn-Effekt im Rückwärtsgang. Nervenheilkunde, 37, s. 617-625.

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