5. Juni 2020

Persönlichkeitsmerkmale schätzen anstatt testen

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Bild von Lolame auf Pixabay Wer Testergebnisse vertrauter Personen einsieht, kennt es: Das Gefühl, dass Persönlichkeitstests nur das zu Tage fördern, was ohnehin schon offenkundig ist. Demnach können wir sehr gut auch ohne Tests einschätzen, welche Merkmalsausprägungen valide Persönlichkeitstests hervorbringen. Es erscheint uns z.B. offensichtlich, dass die für ihre sehr genaue Arbeit bekannte Kollegin „überdurchschnittlich gewissenhaft“ ist. Oder wir wissen bereits, dass der etwas laute und redselige Nachbar „ausserordentlich extravertiert“ sein muss. Hier spielt einerseits der Hindsight-Effekt mit hinein: Denn hinterher sind wir immer klüger. Andererseits dürfte dieser Eindruck trotzdem nicht ganz falsch sein. Er hat aber auch seine Grenzen. Im Podcast „Ologies“ von Alie Ward berichtet die Persönlichkeitspsychologin Prof. Dr. Simine Vazire der Universität Illinois über die Erkenntnisse aus ihrer langjährigen Forschung zu den Big Five Persönlichkeitsmerkmalen.

Gemäss Vazire sind tatsächlich einige Persönlichkeitseigenschaften ziemlich leicht und korrekt einschätzbar. So ermöglicht bereits ein fünfminütiges Gespräch ziemlich zutreffende Einschätzungen des Big Five Merkmals Extraversion. Diesbezüglich sind wir aufgrund unserer eigenen Lebenserfahrung alle auch zu kleinen Persönlichkeitsexperten geworden.

Vazire führt weiter an, dass wir sogar bereits anhand von Fotografien in die Lage versetzt werden, erste Persönlichkeitseinschätzungen zu machen. Diese seien zwar „weit entfernt von perfekt“, erwiesen sich aber zugleich auch signifikant überzufällig als richtig. Das trifft beispielsweise auf die Einschätzung von Narzissmus oder Extraversion zu. Erklären lässt sich der Befund dadurch, dass implizit auch Kleidungsstücke oder Accessoires mitbeurteilt werden. Denn mit diesen drücken die Träger einen Teil ihrer Persönlichkeit aus. So sind z.B. teure und ausgeprägt stilvolle Kleidung, modischer Schmuck, augenfällige Schminke und ein Verzicht auf Brillen positiv mit Narzissmus korreliert. Extraversion wiederum ist ein Teilaspekt von Narzissmus. Es gilt zu betonen, dass hier nicht von Narzissmus im klinischen Sinn die Rede ist, sondern lediglich von einer Tendenz bzw. von einer gegenüber der Normpopulation erhöhten Ausprägung auf diesem Merkmal. Eine solche Ausprägung ist wie bei allen Big Five Persönlichkeitsmerkmalen nicht per se nachteilig, häufig geht sie zugleich mit einem gewinnenden Wesen und besonderem Charme einher. Eigenschaften, die einem vielseitig zum Vorteil gereichen und deren rasche Erkennung auch für potentielle Partner und Wegbegleiter durchaus von Interesse sein können.

Ebenso kann ein Einblick in Umgebungsbedingungen unsere Persönlichkeitseinschätzung massgeblich verbessern: Z.B. erlaubt ein kurzer Blick in die Büro- oder Heimumgebung eine trefflichere Einschätzung einzelner Persönlichkeitsmerkmale. Wir erhalten dadurch einen ersten Eindruck davon, wie aufgeräumt oder geordnet sich das Alltagsleben der zu beurteilenden Person darstellt. Dieser Eindruck wiederum lässt in Ansätzen Rückschlüsse auf das Big Five Merkmal Gewissenhaftigkeit zu.

Schwieriger wird eine Einschätzung bei Merkmalen wie Verträglichkeit oder emotionaler Stabilität. In der Regel dauert es eine Weile, bis solche Merkmale im Verhalten deutlich zu Tage treten, wenn wir jemanden kennen lernen. Das liegt vor allem daran, dass wir gewöhnlich mit negativen Emotionen bei ersten Kontakten zurückhalten und dem Gegenüber höflich und freundlich begegnen. Eine defätistische Haltung lässt sich zum Beispiel zumeist erst nach längerer Bekanntschaft erkennen. Es ist dementsprechend schon erforderlich, jemanden sehr gut zu kennen, um akkurate Beschreibungen zu diesen Merkmalen vornehmen zu können. Vazire spricht von mehreren Wochen vertieftem Kontakt. Deshalb auch liegen Langzeitpartner mit ihrer Einschätzung hierzu ziemlich exakt. Sie kennen Hochs und Tiefs des Gegenübers sehr gut. Die Einschätzung eines Langzeitpartners kann daher durchaus die Durchführung eines Persönlichkeitstests teilweise substituieren oder auch komplettieren.

Quellen:

Podcast “Ologies” von Alie Ward, Episode vom 19. Februar 2019: Personality Psychology.

 

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