30. Juni 2022

Wie gut wir uns selber kennen

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In einem früheren Blogbeitrag ging es um die Möglichkeiten und Grenzen der Fremdeinschätzung von Persönlichkeitsmerkmalen. Doch wie sieht es mit der Einschätzung unserer eigenen Eigenschaften aus? Eine schwierige Frage, weil letztendlich immer ein Stück weit offen bleibt, was denn die „bessere“ Wahrheit ist: Die Selbsteinschätzung unserer Eigenschaften oder die Rückmeldungen aus Persönlichkeitstests und Fremdbeurteilungen? Auch auf diese Frage sucht die Persönlichkeitspsychologin Dr. Simine Vazire in zwei verschiedenen Podcasts Antworten.

Fast immer beruhen Persönlichkeitstests auf Selbsteinschätzungen. Sie können uns daher prinzipiell „nichts“ aufzeigen, was wir nicht schon irgendwie wissen. Es macht jedoch einen grossen Unterschied, ob wir granular auf einzelne Items antworten, unsere Antworten verrechnet und mit einer Normpopulation verglichen werden, oder ob wir die Einschätzung unseres Selbsts direkt und bezogen auf umfassende Merkmale abgeben. Die Stärke von Persönlichkeitstests liegt demnach nicht in der Vermittlung von gänzlich Neuartigem, sondern beruht darauf, unser Selbstbild zu verfeinern, zu vervollständigen und es in Beziehung zu anderen zu setzen. Der Gewinn besteht gleichermassen darin, das Wissen über uns selber „in eine Ordnung“ zu bringen.

Tests können uns darüber hinaus von Stereotypen befreien, denen wir allgemein – aber im Spezifischen auch in der Beurteilung von uns selber – zuneigen. Vazire bringt als Beispiel die verbreitete Annahme vor, dass hohe Gewissenhaftigkeit auch mit einer geringeren emotionalen Stabilität einhergehe. Gemäss diesem Stereotyp machen sich besonders gewissenhafte Personen mehr Sorgen und tendieren zur übermässigen Beschäftigung mit möglichen negativen Konsequenzen des eigenen Handelns. Dies würde gemäss der Annahme mit einem erhöhtem Stresslevel und neurotischen Eigenschaften zusammenhängen. Ein solcher Zusammenhang ist aber im Allgemeinen nicht feststellbar: Gewissenhaftigkeit und Neurotizismus korrelieren nur gering und stehen im Big Five Modell als unabhängige Faktoren.

Vazire vermutet weiter, dass wir uns bezogen auf die Big Five Merkmale in erster Linie bei der Einschätzung der eigenen Verträglichkeit täuschen. Wir irren uns in unserer Selbstwahrnehmung also am ehesten darin, wie freundlich, rücksichtsvoll und höflich wir uns tatsächlich verhalten. Solche Eigenschaften gelten zwar allgemein als sehr wünschenswert, haben aber wie alle Persönlichkeitsmerkmale in einer überdurchschnittlichen Ausprägung auch ihre Schattenseiten: Leute mit hoher Verträglichkeit neigen zum Beispiel dazu, ihre Ziele und Werte zu wenig hochzuhalten. Sie geraten leichter in Gefahr, als anbiedernd oder blass wahrgenommen zu werden. Gemäss Vazire tendieren wir entweder dazu, die eigene Verträglichkeit zu überschätzen, oder dann diese umgekehrt deutlich zu unterschätzen. Vieles hängt dabei vom eigenen Selbstwert ab.

Auch beim Ausfüllen von Persönlichkeitsfragebogen können ähnliche Mechanismen in abgeschwächter Form zum Tragen kommen. Es kann daher nicht verfehlt sein, die Ergebnisse aus Persönlichkeitstests kritisch zu hinterfragen und diese nicht für die unumstösslich einzig richtige Wahrheit zu halten. In der Forschung können Experteneinschätzungen aufgrund von wiederholten Beobachtungen und Tonaufnahmen zum Einsatz kommen, um objektivere Einschätzungen der Persönlichkeit zu erlangen. In der Beratung und im Coaching ist es möglich, Fremdeinschätzungen durch das soziale Umfeld einzuholen und einzubeziehen. Wer seine Selbsteinschätzung vertieft hinterfragen möchte, kann auch technische Hilfsmittel wie beispielsweise EAR-Apps (Electronically Activated Recording) zu Hilfe nehmen und von sich selber in verschiedenen Situationen des Alltags Audioschnipsel aufnehmen.

Welche Mittel und Techniken auch genutzt werden: Näher kommt sich nur, wer eine gute Portion Ausdauer in der Auseinandersetzung mit sich selber und eine hohe Bereitschaft zur Korrektur des Selbstbildes mitbringt.

Quellen:

Podcast “Ologies” von Alie Ward, Episode vom 19. Februar 2019: Personality Psychology.

Podcast “The Black Goat”, Episode vom 31. Oktober 2018: Testing 1-2-3.

 

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