10. Dezember 2020

Die Big Five der psychologischen Bedürfnisse

Print Friendly, PDF & Email

Bild von sergei akulich auf Pixabay Wie sollen wir Verhaltensweisen einordnen, die eigentlich nicht unserer Persönlichkeit entsprechen? Abweichendes Verhalten, welches scheinbar im Widerspruch zu den stabilen Traits steht, welche uns durch Persönlichkeitstests zurückgemeldet werden und mit unserem Selbstbild übereinstimmen? Wie können wir solch untypisches Verhalten bei anderen verstehen? Wenn eine vorgesetzte Person beispielsweise aufbrausend reagiert, wo sie doch eigentlich für ihre überaus grosse Geduld bekannt ist? Oder sich ein Arbeitskollege plötzlich nur noch zurückzieht, obwohl er sonst immer so extravertiert aufgetreten ist? Rasch werden situative Faktoren ins Feld geführt: Unser menschliches Verhalten ist zu komplex, um sich in jedem Kontext alleine durch ein paar wenige Persönlichkeitsmerkmale erklären zu lassen. Doch gerät die Persönlichkeit dadurch nicht gar etwas zu vorschnell in den Hintergrund der Betrachtung? Die beiden Coachingpsychologen Tim Johansson und Casey Lankow richten das Augenmerk stattdessen vermehrt auf die Ebene der persönlichen Bedürfnisse. Denn allzu häufig sind es unsere Bedürfnisse, die „Ausreisser“ in unserem Verhalten oder eben überraschende und unerwartete Reaktionen moderieren.

In Anlehnung an Henry Murray’s Bedürfnistheorie postulieren Tim Johansson und Casey Lankow in ihrem Podcast „Psychology at Work“ fünf psychologische Bedürfnisse, die sie damit auch den bekannten Big Five Merkmalen der Persönlichkeit gegenüberstellen:

  1. Bedürfnis nach Information: Entspricht dem Bestreben nach Informationszuwachs, besserem Verständnis und Klärung offener Fragen.
  2. Bedürfnis nach Verbundenheit: Entspricht dem Bestreben nach Verbundenheit mit einer grösseren Sache oder einer sozialen Zugehörigkeit.
  3. Bedürfnis nach Anerkennung: Entspricht dem Streben nach verschiedenen Formen externaler Bestätigung, Akzeptanz oder Auszeichnung.
  4. Bedürfnis nach Zielerreichung: Entspricht dem Streben nach eigener Entwicklung, Leistung und Zielerreichung gemäss inneren Massstäben.
  5. Bedürfnis nach Sicherheit: Entspricht weitgehend dem Streben nach Einschätzbarkeit der Zukunft sowie Wissen über Bevorstehendes und weist entsprechend einen engen Bezug zum Informationsbedürfnis auf.

Es soll sich herbei um diejenigen Bedürfnisse handeln, die sich in Bezug auf unsere Arbeitsumwelten und -tätigkeiten als besonders massgeblich erweisen. Was das bedeuten kann, wird von Lankow und Johansson an einer Reihe von Beispielen ausgeführt: So mag eine Mitarbeitende etwa gegenüber Neuerungen aufgrund ihrer Persönlichkeit grundsätzlich sehr offen sein. Wird aber gleichzeitig ihr starkes Bedürfnis nach Information nicht erfüllt, kann ihr Verhalten trotz dieser Offenheit rasch in Richtung Ablehnung gegenüber geplanten Veränderungen kippen. Zu beachten ist hierbei, dass nicht das Mass an Informationen entscheidet, welches die Vorgesetzten als ausreichend erachten, sondern die Ausprägung des Bedürfnisses der Mitarbeitenden.

Auch das Aufeinandertreffen stark abweichender Bedürfnisse im sozialen Kontext kann Verhalten erklären, das von der sonst für die Person eigenen Norm abweicht. Betrachten wir einen Mitarbeitenden mit eher geringem Informationsbedürfnis und gehen wir erneut davon aus, dass sich diese Person in der Regel organisatorischen und technischen Neuerungen gegenüber sehr offen zeigt. Aufgrund seinem vergleichsweise eher gering ausgeprägtem Informationsbedürfnis ergeben sich für diesen Mitarbeitenden im Allgemeinen nur sehr wenige Fragen, bevor er sich positiv auf Neuerungen einlässt. Trifft dieser Mitarbeitende nun in seinem Team aber auf andere Personen mit ausgeprägt starkem Informationsbedürfnis und wird er mit deren ausdrücklichem, beständigem Nachfrageverhalten sowie zusätzlichem Klärungsbedarf konfrontiert, so kann gerade dieses – für ihn wenig nachvollziehbare – Verhalten trotz geringem eigenen Informationsbedürfnis eine untypische Zurückhaltung gegenüber den Neuerungen auslösen.

Das Kennenlernen und Berücksichtigen von Bedürfnissen – und seien es die eigenen – können in solchen und ähnlichen Situationen schon viel Erklärungswert bieten, Veränderungsbereitschaft erhöhen und damit auch Konfliktpotenzial reduzieren. Die Beschränkung auf eine Auswahl von fünf Bedürfnisse durch Johansson und Lankow ist dabei mehr als Vorschlag zu sehen und beruht weniger auf einer fundierten empirischen Basis. So dürfte beispielsweise in der Arbeit auch dem Entfaltungsbedürfnis eine grosse Bedeutung zukommen, welches ebenfalls von Individuum zu Individuum sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Mit Johansson und Lankow darf aber festgehalten werden, dass gerade überraschendes und untypisches Verhalten die Chance bietet, unsere Bedürfniswelt besser zu ergründen und zu verstehen.

Quellen:

Podcast “Psychology at Work” von Casey Lankow and Tim Johansson, Episode vom 14. Oktober 2019: Psychological Values (Needs), The Stuff Defensiveness Is Made Of.

 

Schreibe eine Antwort